Gemeinsam
Der Tannenbaum, wie er so vor unserem Wohnzimmerfenster steht, leuchtet in den schönsten Weihnachtsfarben. Rote Kugeln, eine funkelnde Lichterkette und selbstgebastelter Schmuck strahlen um die Wette. Aus der Küche dringen verführerische Düfte an meine Nase und das geschäftige Geklapper von Geschirr, das schon seit heute Vormittag durch das Haus dringt, wird von Minute zu Minute weniger. Ich vermute, dass Oma und mein großer Bruder die Vorbereitungen für das Festessen abgeschlossen haben. Das Holz im Ofen knistert friedlich. Ich falte gerade die achte Serviette und merke, dass meine kleine Schwester sich immer noch nicht erbarmt hat, sich zu mir zu gesellen.
„Anna, kannst du mir endlich mal beim Tischdecken helfen?“
Immer noch sitzt sie auf dem Sofa und starrt in ihr Handy. Kurz blickt sie auf. Ich deute mit dem Kinn auf den Stapel Teller vor mir. Sie murmelt nur unverständlich und lässt sich wieder von einem Video ablenken, dessen Töne leise an mein Ohr dringen.
„Bianca spricht mit dir“, bemerkt mein Opa, der in diesem Moment ins Wohnzimmer gestiefelt kommt.
Er trägt ein großes Geschenk in den Händen.
Anna seufzt genervt. „Ja, gleich“, antwortet sie nur.
Opa legt das Geschenk unter den geschmückten Baum und setzt sich zu seiner Enkelin auf das Sofa.
„Was treibst du denn mit dem kleinen Kasten da?“, fragt er.
Anna sollte mir vorhin schon beim Schmücken der Tanne helfen, aber keine Chance. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt ihrem kleinen Bildschirm. Mein Vater machte sich erst gar nicht die Mühe zu fragen, ob sie ihm beim Holzholen unterstützt.
Ein paar Sekunden sagt Anna nichts. Inzwischen hantiere ich mit der neunten Serviette.
„Ich spiel’ so ein Spiel. Hab’ ich gestern runtergeladen.“ Endlich sieht sie ihren Opa an.
„Heruntergeladen?“ Er runzelt die Stirn. Wie ein Fremdwort klingt es aus seinem Mund.
„Ja. Runtergeladen. Guck hier. Du klickst hier rauf, dann da. Und wenn du auf den Button hier klickst, geht es los.“
Mit schnellen Fingerbewegungen führt sie das Ganze vor. Opa, so scheint es mir, hat längst den Faden verloren. Inzwischen habe ich die Servietten fertig gefaltet und mache mich daran, langsam die Teller zu verteilen. Skeptisch und ein wenig verwirrt beäugt mein Großvater das Handy.
„Und so etwas brauchst du? Wie hält man so etwas überhaupt richtig in der Hand?" Opa greift vorsichtig nach Annas Handy, sie lässt ihn widerwillig gewähren.
“Und mit dem Finger kann ich jetzt auf den Bildschirm drücken?” Meine Schwester seufzt entnervt.
„Ja Opa. Alle haben das. Gib wieder her, du verstehst es ja doch nicht.“
Für einen Moment halte ich inne. Und erschrecke kurz. Die Szene, die sich dort auf dem Sofa abspielt, hat etwas Bizarres an sich. Das ist mein Großvater, der dort sitzt. Ein stattlicher Mann. Ein Mann, der mich hat aufwachsen sehen, der mir im Laufe meiner Kindheit immer mit weisem Rat zur Seite stand, der sich durchs Leben hat kämpfen müssen, der es nicht immer leicht hatte. Warum wirkt dieser Mann neben seiner Enkelin plötzlich so lächerlich? Alt und lächerlich, weil er eine App nicht bedienen kann. Lächerlich, neben Anna, die heute noch keinen müden Finger gerührt hat. Ich ahne, wie überlegen sie sich fühlt, weil sie zwei, drei Fingergriffe an ihrem Handy beherrscht.
„Und um was geht es bei deinem Spiel?“ Anna schnauft wieder.
„Das ist ein Weihnachtsspiel. Ich kann entscheiden, wer das Essen macht, wer die Geschenke einpackt. Es läuft ein Countdown.“ Der verwirrte Blick von Opa wechselt plötzlich. Nun schaut er sehr belustigt drein.
„Sag mal“, beginnt er dann „weißt du überhaupt wie das geht? In echt?“ Und ganz plötzlich ist der bizarre Moment vorüber. Mit festem und ironischem Blick guckt er meine Schwester an.
„Kannst du eine Weihnachtskugel an den Baum hängen?" Er blickt zu mir. “Kannst du eine Serviette falten?“ Anna blinzelt.
“Weißt du, was du jetzt machen wirst? Diesen unnützen Kasten weglegen und dich nützlich machen.“ Meine Schwester protestiert.
„Kein Aber! Jeder hat heute dafür gesorgt, oder sorgt immer noch dafür, dass wir heute einen schönen Abend genießen können.“ Ich mische ich mich auch ein.
“Hör endlich auf, Opa zu widersprechen. Komm, wir schauen, ob wir in der Küche noch gebraucht werden.“
„Geht doch“, brummt Opa eine Stunde später zufrieden, als er Anna dabei zusieht wie sie unseren eben eingetroffenen Gästen unbeholfen, aber konzentriert Wein einschenkt. Sie lächelt Opa schief an.
19:59 zeigt die Uhr. Ein letztes Mal schmecken Oma und mein Bruder die Soße ab. Zufrieden geben sie sich ein High Five. Mama bindet das letzte Schleifchen, mein Vater legt noch einmal Holz nach. Und ich? Ich drehe meine gefaltete Serviette in den Händen und genieße die Szene um mich herum. Genieße, wie sich das geschäftige Treiben langsam legt, ein jeder zur Ruhe kommt und die festliche Atmosphäre in sich aufnimmt, die wir erschaffen haben. Gemeinsam.
Frohe Weihnachten! LG, Laurita
P.S.: Danke an Yvonne für das schöne Bild!